Die neue Steinbockanlage im Dählhölzli-Zoo
Ein Stück Tierparkgeschichte
Die Steinbockanlage am Aarehang wurde bereits 1937 errichtet und war in der Vergangenheit das älteste noch bestehende Gehege im Tierpark Bern. Über Jahrzehnte hinweg prägte sie das Bild des Zoos – nahezu unverändert seit ihrer Eröffnung.
Altersspuren und Sicherheitsrisiken
Im Laufe der Zeit machte sich jedoch der Zahn der Zeit bemerkbar:
- Felsblöcke lösten sich und rollten gefährlich den Hang hinab
- Der Untergrund war instabil, durchzogen von unbekannten Hohlräumen
- Die Anlage bot kaum Rückzugsräume für die Tiere und war von beiden Seiten einsehbar – vom Aareufer unten und vom Waldweg oben
- Diese baulichen und tierschutzrelevanten Mängel machten eine umfassende Erneuerung unumgänglich – für das Wohl der Tiere und die Sicherheit der Besucher.
Der Weg zur Neugestaltung
Bereits 2015 wurde ein Architektur- und Landschaftsplanungswettbewerb ausgeschrieben. Das überzeugende Siegerprojekt stammt vom Berner Büro Weber + Brönnimann Landschaftsarchitekten AG, gemeinsam mit Weber + Brönnimann Bauingenieure AG.
Die Vision: Eine „Aare-Alpen“-Landschaft
Das neue Konzept verwandelt den Aarehang in eine modellhafte Alpenlandschaft. Die Gestaltung gliedert sich in mehrere Zonen, die sich eng am natürlichen Lebensraum der Tiere orientieren:
- Unten entsteht ein bewaldeter „Gämsenwald“, der an die Waldgrenze erinnert
- Oben wird eine hochalpine Felslandschaft nachgebildet – als neues Zuhause für Steinböcke und Murmeltiere
- Eine zusätzliche, begehbare Voliere vom Aareufer aus bringt Besuchende in Kontakt mit typischen Alpenbewohnern wie Alpenschneehühnern, Schneehasen und Alpenkrähen
Alle Teilbereiche der neuen Anlage verfolgen ein Ziel: Die Alpen so authentisch wie möglich erlebbar machen – für Tiere wie für Menschen.
Mit dieser Neugestaltung setzt der Tierpark Bern neue Massstäbe in Sachen naturnahe Tierhaltung, innovativer Landschaftsarchitektur und Besucherbildung.

Vom Plan zur alpinen Erlebnislandschaft
Grünes Licht nach intensiver Planung
Nach einer mehrjährigen Planungsphase von 2015 bis 2018 wurde das Projekt durch die Tierparkkommission und die Stadt Bern offiziell bewilligt. Die veranschlagten Gesamtbaukosten von 4,3 Millionen Franken konnten vollständig durch externe Beiträge und Eigenmittel gedeckt werden – ein grosser Erfolg dank der Unterstützung von:
- dem Tierparkverein Bern
- der öffentlichen Hand (Stadt und Kanton Bern)
- Stiftungen und Gönner und Gönnerinnen
Bauzeit und Eröffnung
Der erste Spatenstich erfolgte im Juni 2019. Die Bauarbeiten schritten zügig voran – bereits im Mai 2020 konnten die Steinböcke ihr neues Revier erstmals beziehen.
Projektleitung und Fachwissen
Die Bauherrschaft lag beim Tierpark Bern. Als Generalplaner zeichnete das Büro Weber + Brönnimann verantwortlich, unterstützt durch den erfahrenen Steinbock-Experten Rudolf Käch.

Die Aare-Alpen als naturnahes Konzept
Die neue Anlage bringt ein Stück Hochgebirge an die Aare. Auf dem weitläufigen Gelände leben mehrere alpine Tierarten gemeinsam, wodurch Besuchende einen ganzheitlichen Eindruck vom Lebensraum Alpen erhalten.
Zwei Lebensräume, ein Hang
Der Hang ist in zwei thematische Zonen gegliedert
Im unteren Bereich: ein dichter Alpenwald, wie er dem natürlichen Lebensraum von Gämsen entspricht
Im oberen Teil: eine hochalpine Felslandschaft, inspiriert von der Felsarena des Creux du Van, als Revier für die Steinböcke
Modellierte Gebirgswelt
Die Landschaft wurde aus einer Mischung von echtem Felsmaterial und künstlichem Felsbeton geformt. Besonders eindrucksvoll:
- Zwei hohe Felszinnen ragen markant in den Himmel und bieten vor allem jungem Nachwuchs Raum für Kletterübungen
- Steile Strukturen erlauben Rückzug und fördern das natürliche Kletterverhalten der Tiere
- Geteiltes Terrain und alpine Vielfalt
- Auf halber Hanghöhe befindet sich ein grosses Felsplateau, das die Alpensteinböcke mit einer Kolonie Alpenmurmeltiere teilen – ein tierisches Miteinander, das man so in der Natur nur mit Glück zu Gesicht bekommt.
In der angrenzenden Voliere leben weitere typische Bewohner des Hochgebirges, darunter:
- Alpenschneehühner
- Alpenkrähen
- Schneehasen
- Ein kleines Ökosystem an der Aare
Mit der neuen Anlage ist ein authentisches Mini-Alpen-Ökosystem entstanden – von der Baumgrenze bis in felsige Höhen. Es macht die Schweizer Alpenlandschaft erlebbar, fördert artgerechte Tierhaltung und schafft ein intensives Naturerlebnis für Gross und Klein.

Ein barrierefreier Weg durch alpine Höhen
Die neue Aare-Alpen-Anlage bietet nicht nur den Tieren ein modernes Zuhause – auch Besucher erleben hier etwas Besonderes. Ein neu angelegter, barrierefreier Besucherweg, der sogenannte „Wildererpfad“, schlängelt sich in Serpentinen vom Aareufer den Hang hinauf. Dabei durchquert er alle Lebensräume der Anlage – vom bewaldeten Tal über die Baumgrenze bis in die felsige Hochalpenregion.
Auf den Spuren des Alpensteinbocks
Der Pfad lädt dazu ein, symbolisch die Höhenstufen der Alpen zu durchwandern – und dabei in die bewegte Geschichte des Alpensteinbocks in der Schweiz einzutauchen. Infotafeln und inszenierte Szenen erzählen eindrücklich vom dramatischen Schicksal dieser ikonischen Tierart:
- Im 19. Jahrhundert war der Steinbock in der Schweiz ausgerottet
- Erst Anfang des 20. Jahrhunderts begann die Wiederansiedlung – auf abenteuerliche Weise
Giuseppe Bérard: Der Wilderer als Retter
Ein zentrales Element der Ausstellung ist die Geschichte des legendären Wilderers Giuseppe Bérard. Er schmuggelte Anfang des 20. Jahrhunderts Steinböcke aus Italien in die Schweiz, was als Startschuss für die erfolgreiche Wiederansiedlung gilt. Auf dem Pfad begegnen Besuchende seinen Spuren – eine faszinierende Mischung aus Natur, Legende und Artenschutz.
Ungewöhnliche Einblicke – ganz nah dran
Der Weg bietet mehr als nur Information: Mehrere Aussichtsstellen eröffnen neue Perspektiven auf das Tierleben in der Anlage:
- Sichtfenster in Felswänden geben punktuelle Einblicke in versteckte Gehegeteile
- Ein unterirdischer Beobachtungstunnel führt direkt ins felsige Zentrum der Steinbockanlage – für spannende Einblicke ohne Störung
Steinböcke auf Augenhöhe
Am unteren Ende der Anlage, nahe der Aare, kommen Besucher:innen den Steinböcken ganz besonders nahe:
Wenn dort spezielle Zugangstore geöffnet sind, stehen die Tiere den Gästen fast auf Augenhöhe gegenüber – ein eindrucksvolles Erlebnis, das Tierbeobachtung auf neue Weise ermöglicht.

Die Alpen mitten in Bern – sie bieten:
- Den Tieren eine naturnahe, strukturreiche Umgebung
- Den Menschen ein intensives Natur- und Bildungserlebnis
- Wer dem Wildererpfad folgt, erlebt die Alpenlandschaft in Miniaturform – authentisch, spannend und berührend. Ein echtes Stück Gebirge mitten in der Stadt.

Der Wildererpfad – Spurensuche in den Aare-Alpen
Mit dem Ausbau der Steinwildanlage im Tierpark Dählhölzli zur heutigen „Aare-Alpen“ entstand nicht nur ein neuer, naturnaher Lebensraum für alpine Tierarten – auch für die Besuchenden wurde ein besonderes Angebot geschaffen: der Wildererpfad. Dieser thematische Rundgang verbindet Tierbeobachtung, Naturerlebnis und Zoopädagogik auf eindrückliche Weise.
Der Wildererpfad führt quer durch die Aare-Alpen-Anlage und verbindet den unteren Aareuferweg mit dem oberen Waldweg. Dabei orientiert sich seine Wegführung symbolisch an den verschiedenen Höhenstufen der Alpen. Besucherinnen und Besucher durchqueren waldige, felsige und offene Landschaftsräume, die den natürlichen Habitaten von Gämsen, Steinböcken, Murmeltieren und alpinen Vogelarten nachempfunden sind. Der Pfad ist barrierefrei zugänglich und ermöglicht an mehreren Stellen Einblicke in die Anlage – etwa durch kleine Sichtfenster oder durch einen Beobachtungstunnel, der direkt in die Felswand eingelassen ist. So können Tiere aus nächster Nähe beobachtet werden, ohne sie zu stören.
Im Zentrum des Wildererpfads steht jedoch eine ganz besondere Geschichte: die Wiederansiedlung des Alpensteinbocks in der Schweiz. Diese Tierart war im 19. Jahrhundert in der Schweiz vollständig ausgerottet. Erst durch das mutige und teils illegale Handeln einzelner Personen – insbesondere Giuseppe Bérard, ein Wilderer aus dem italienischen Aostatal – gelang es Anfang des 20. Jahrhunderts, Steinböcke zurück in die Schweizer Alpen zu bringen. Bérard fing Jungtiere aus dem Gran-Paradiso-Nationalpark und verkaufte sie an Schweizer Wildhüter, wodurch die Wiederansiedlung eingeleitet wurde.
Diese faszinierende Episode alpiner Naturgeschichte wird auf dem Wildererpfad in Szene gesetzt: interaktive Stationen mit Wissenstafeln und Hörmodulen erzählen die Geschichte der Rückkehr des Steinbocks. Kinder und Erwachsene können den Pfad mit einer Stempelkarte erkunden und unterwegs verschiedene Aufgaben lösen. Symbolisch sammeln sie dabei Ausrüstungsgegenstände eines historischen Wilderers. Wer alle Stationen erfolgreich durchläuft, erhält am Ende die Telefonnummer von Giuseppe Bérard – und kann ihn sogar „anrufen“, um weitere Informationen zu erhalten.
Der Wildererpfad ist Teil des pädagogischen Konzepts der Aare-Alpen-Anlage und verknüpft spielerisch die Themen Artenschutz, Tiergeschichte und Alpenbiologie. Er bietet eine abwechslungsreiche Ergänzung zur klassischen Tierbeobachtung und lädt dazu ein, sich mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der alpinen Tierwelt auseinanderzusetzen.

Giuseppe Bérard – Wilderer, Schmuggler, Lebensretter
Die Wiederansiedlung des Alpensteinbocks in der Schweiz gilt als eine der grossen Erfolgsgeschichten im europäischen Artenschutz. Doch kaum jemand weiss: Sie wäre ohne das riskante Handeln eines italienischen Wilderers wohl nie gelungen. Sein Name: Giuseppe Bérard.
Um 1900 war der Alpensteinbock aus den Schweizer Alpen verschwunden. Über Jahrhunderte war das stattliche Tier bejagt worden – wegen seines Fleisches, seiner Hörner und nicht zuletzt wegen seines mythischen Rufs: Pulver aus Horn oder Beinknochen galt als Heilmittel, etwa gegen Impotenz oder Nierenleiden. 1809 wurde der letzte freilebende Steinbock in der Schweiz erlegt. Einzig im italienischen Königreich, im abgeschiedenen Gran-Paradiso-Massiv im Aostatal, überlebte eine kleine Restpopulation – unter strengem Schutz des Königs von Italien.
Giuseppe Bérard stammte aus Rhêmes-Notre-Dame, einem Dorf nahe des Nationalparkgebiets. Er war Wilderer und Bergführer, mit einem intimen Wissen über das Gelände, die Tiere – und die Grenzen. In einer Zeit, in der Armut und Überleben eng verbunden waren, war Wildern für viele keine kriminelle Handlung, sondern Notwendigkeit. Doch Bérards Interesse galt mehr als dem eigenen Vorteil: Er wusste um die Bedrohung des Steinwilds – und um dessen symbolische Bedeutung für die Alpen.
Ab 1906 begann Bérard im Auftrag Schweizer Wildhüter, Förster und Privatleute, junge Steinböcke lebend zu fangen und über die Grenze in die Schweiz zu schmuggeln. Die Aktion war hochriskant: Die Tiere mussten in unwegsamem Gelände gefangen, versteckt und dann tagelang durch Bergpässe transportiert werden – teils auf dem Rücken, teils mit Mauleseln, teils zu Fuss. Bei Entdeckung drohten Haftstrafen oder Schlimmeres, denn das Wildern im königlichen Jagdrevier galt als schweres Verbrechen.
Bis zum Ersten Weltkrieg brachte Bérard mindestens 59 Steinböcke in die Schweiz. Diese Tiere wurden in Wildparks untergebracht, u. a. in Interlaken, St. Gallen, Peter und Paul (SG) und auf dem Pilatus. Die Tiere vermehrten sich gut – und von hier aus begann die gezielte Wiederansiedlung in den Bergen: im Wallis, im Engadin, im Tessin – und später auch im Berner Oberland.
Heute leben wieder rund 18’000 Steinböcke in der Schweiz. Fast alle gehen genetisch auf jene ersten importierten Tiere zurück – auf die Schmuggelware von Giuseppe Bérard. Ohne ihn gäbe es den Alpensteinbock bei uns nicht mehr.
Bérard selbst blieb zeitlebens im Schatten. Sein Name taucht in frühen Berichten kaum auf – zu gross war wohl auch die Angst, alte Sünden könnten aufgearbeitet werden. Erst viel später wurde er als das erkannt, was er war: ein Pionier des praktischen Artenschutzes, ein Wilderer mit Weitsicht, der gegen Gesetze verstiess, aber zum Wohl einer ganzen Tierart handelte.
Heute ist Giuseppe Bérard Teil der Geschichte, die im Wildererpfad der Aare-Alpen-Anlage im Tierpark Bern erzählt wird. Dort kann man nicht nur Steinböcke in einer modernen, naturnahen Umgebung beobachten – man begegnet auch den Spuren des Mannes, der ihnen einst den Weg zurück in die Schweiz öffnete.