Bis Mitte der 1990er-Jahre galt die Europäische Sumpfschildkröte (Emys orbicularis) in der Schweiz als ausgestorben. Heute erlebt die einzige einheimische Schildkrötenart Mitteleuropas ein bemerkenswertes Comeback. Durch koordinierte Wiederansiedlungsprojekte und gezielte Schutzmassnahmen kehrt sie langsam, aber stetig in ausgewählte Lebensräume zurück.
Die Europäische Sumpfschildkröte bewohnt bevorzugt flache, sonnenexponierte Gewässer mit reicher Ufervegetation. Diese Lebensräume sind in der Schweiz selten geworden – ihr Rückgang ist eine der Hauptursachen für das Verschwinden der Art. Hinzu kamen frühere Verfolgung, etwa als Fastenspeise, sowie Störungen durch invasive Arten und Umweltverschmutzung.
Rückkehr uralter Pioniere in heimische Gefilde
Seit 2010 läuft in der Schweiz ein nationales Wiederansiedlungsprojekt, das vom Bundesamt für Umwelt (BAFU) koordiniert wird. Es umfasst die Nachzucht, Auswilderung und medizinische Begleitung von Jungtieren sowie den Schutz und die Aufwertung geeigneter Lebensräume. An ausgewählten Standorten wie im Kanton Genf, im Neuenburger Seeland und im Tessin werden Tiere der passenden genetischen Unterart (Haplotyp IIa bzw. IVa) ausgewildert. Der Tierpark Bern ist als tiermedizinischer Partner eng in dieses Projekt eingebunden.
Vorsorge als Schlüssel zur sicheren Rückkehr
Ein zentrales Element ist die Gesundheit der Schildkröten: Nur gesunde Tiere dürfen ausgewildert werden, um bestehende Populationen nicht durch Krankheitserreger zu gefährden. Seit 2019 begleitet der Tierpark Bern das Projekt wissenschaftlich. Im Rahmen einer tiermedizinischen Dissertation wurden umfassende Daten zum Gesundheitszustand sowohl in Zuchtstationen als auch bei wildlebenden Tieren erhoben. Daraus entstand ein Vorsorgekonzept, das heute Grundlage für die Bewertung und Auswahl auswilderungsfähiger Tiere ist.
Die Untersuchungen umfassen unter anderem Gewicht, Grösse, Blutanalysen, mikrobiologische Abstriche sowie bildgebende Verfahren wie Röntgen und Ultraschall. Auch Tiere aus bestehenden Freilandpopulationen in Genf und Neuenburg wurden untersucht, um Referenzdaten zu schaffen. In Zusammenarbeit mit der Vetsuisse-Fakultät Bern und dem Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut wird ein Behandlungsschema gegen Saugwürmer (Trematoden) entwickelt, die bei Schildkröten schwere Erkrankungen auslösen können.
Neue Generationen auf behütetem Weg in die Freiheit
Zwischen 2021 und 2023 konnten zahlreiche Jungtiere aus dem Tierpark Bern sowie von Partnerzuchten erfolgreich ausgewildert werden. Vor der Aussetzung wurden sie gechippt, vermessen und medizinisch untersucht. Die Nachzuchten stammen aus einer kontrollierten Zuchtanlage im Tierpark, in der zwischen 10 und 20 Jungtiere pro Jahr heranwachsen. Die Elterntiere sind Leihgaben von privaten Züchtern und Partnerinstitutionen wie der Schildkröteninteressengemeinschaft Schweiz (SIGS) oder dem Verein SwissEmys.
Gemeinsam für das Überleben einer stillen Botschafterin
Die Rückkehr der Europäischen Sumpfschildkröte steht exemplarisch für den Erhalt der einheimischen Biodiversität. Sie zeigt, dass erfolgreiche Artenschutzprojekte langfristig Wirkung zeigen können – vorausgesetzt, Lebensräume werden erhalten und wissenschaftlich begleitet. In der Schweiz bleibt Emys orbicularis stark gefährdet. Nur durch gemeinsame Anstrengungen von Forschung, Naturschutz und Öffentlichkeit kann ihr Fortbestand gesichert werden.

Steckbrief: Europäische Sumpfschildkröte (Emys orbicularis)
Gefährdungsstatus: Vom Aussterben bedroht (CR)
Nationale Priorität: Hoch
Lebensraum: Flache, pflanzenreiche Stillgewässer mit sonnigen Uferzonen
Merkmale: Dunkler Panzer mit gelben Punkten oder Linien, Bauchpanzer variabel gefärbt
Fortpflanzung: Eiablage an Land; Temperaturabhängige Geschlechtsbestimmung
Ernährung: Als Jungtiere überwiegend Wirbellose, als Erwachsene auch Amphibien und Wasserpflanzen

Auswilderungen durch den Tierpark Bern im Überblick
2021 – Erste Auswilderung von Berner Nachzuchten
Im Sommer 2021 konnten erstmals 18 Jungtiere aus dem Tierpark Bern im Kanton Genf ausgewildert werden. Die Tiere stammten aus der Nachzucht des Vorjahres, wurden in einem Inkubator ausgebrütet und unter kontrollierten Bedingungen aufgezogen. Vor der Auswilderung erfolgte ein umfassender Gesundheitscheck.
2022 – Zwei Auswilderungen in Genf und Neuenburg
Im Juli 2022 wurden 17 Jungtiere von privaten Züchtern, die zuvor im Tierpark medizinisch untersucht wurden, im Naturschutzgebiet Les Teppes (GE) sowie bei Rouelbeau (GE) ausgewildert. Im September desselben Jahres folgte eine weitere Auswilderung: 16 Jungtiere aus der Nachzucht des Tierparks wurden in ein Feuchtgebiet bei Genf entlassen. Auch diese Tiere durchliefen eine vollständige Gesundheitskontrolle und Quarantänephase.
2023 – Rückkehr an den Alten Zihlkanal
Im August 2023 wurden neun junge Sumpfschildkröten aus dem Tierpark Bern in einem renaturierten Teich beim Alten Zihlkanal (NE) ausgewildert. Die Tiere waren bereits 2017 und 2018 geschlüpft und wurden über mehrere Jahre hinweg betreut, untersucht und vorbereitet.

Wie funktioniert eine Wiederansiedlung?
Die Wiederansiedlung der Europäischen Sumpfschildkröte (Emys orbicularis) ist ein sorgfältig geplanter, langfristig angelegter Prozess, der auf wissenschaftlichen Grundlagen basiert. Ziel ist es, stabile, sich selbst erhaltende Populationen dieser einheimischen, stark gefährdeten Art in geeigneten Feuchtgebieten der Schweiz wiederherzustellen.
Auswahl geeigneter Lebensräume
Zunächst werden potenzielle Wiederansiedlungsgebiete sorgfältig geprüft. Diese müssen bestimmte ökologische Kriterien erfüllen – darunter flache, vegetationsreiche Gewässer, geeignete Eiablageplätze und angrenzende Trockenlebensräume. Nur Flächen, die diese Anforderungen erfüllen, werden von der Koordinationsstelle für Amphibien- und Reptilienschutz (karch) für Wiederansiedlungsprojekte freigegeben.
Zucht und Vorbereitung der Tiere
In spezialisierten Zuchtanlagen – darunter der Tierpark Bern und andere Tierparks und Zoos von zooschweiz – werden junge Europäische Sumpfschildkröten unter kontrollierten Bedingungen aufgezogen. Dabei wird besonders auf genetische Reinheit und Gesundheit geachtet. Bevor die Tiere in die Freiheit entlassen werden, erfolgen umfassende tierärztliche Untersuchungen.
Auswilderung vor Ort
Die jungen Schildkröten werden in mehreren Etappen über einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren in ausgewählten Gebieten freigelassen. Dabei kommen in der Regel frisch geschlüpfte und juvenile Tiere zum Einsatz, die sich leichter an ihre neue Umgebung anpassen können. Einige von ihnen werden mit Sendern ausgestattet, um ihr Verhalten wissenschaftlich zu dokumentieren.
Langfristiges Monitoring
Eine erfolgreiche Wiederansiedlung lässt sich erst nach Jahren beurteilen. Entscheidend ist, ob die freigelassenen Tiere in ihrem neuen Lebensraum bleiben, sich fortpflanzen – und ob Jungtiere aus Naturbruten nachgewiesen werden können. Wissenschaftler beobachten die Populationen kontinuierlich, um den Erfolg der Massnahmen zu bewerten und die Entwicklung zu begleiten.
Öffentlichkeitsarbeit und Sensibilisierung
Ein wichtiger Bestandteil der Wiederansiedlung ist die Information der Bevölkerung. Die Europäische Sumpfschildkröte ist keine Haustierart. Das Aussetzen fremder Tiere in der Natur ist verboten und gefährdet die Wiederansiedlungsprojekte. Zoos, Naturschutzorganisationen und kantonale Behörden klären über Schutzmassnahmen und den richtigen Umgang mit dieser Art auf.
Dank des Engagements von zooschweiz, der karch, dem Tierpark Bern und vielen weiteren Partnern konnten in den letzten Jahren wichtige Fortschritte erzielt werden – insbesondere im Kanton Genf, wo erstmals wieder in der Wildnis geborene Jungtiere gesichtet wurden. Die Rückkehr der Europäischen Sumpfschildkröte ist ein Hoffnungsschimmer für den Schutz einheimischer Arten und ihrer Lebensräume.

Weiterführende Einblicke in die Wiederansiedlung bedrohter Arten
Der Tierpark Bern engagiert sich nicht nur für die Rückkehr der Europäischen Sumpfschildkröte, sondern beteiligt sich an einer Vielzahl nationaler und internationaler Auswilderungsprojekte. Eine Übersicht über die wichtigsten Artenschutzprogramme finden Sie hier:
